Horant Fassbinder
ANTIMENSIUM
Auszüge aus dem Text in:
Anette Haas, Antimensium
Kunst im Dom IX. Herausgeber: Domkirchenvorstand, Braunschweig, 1997


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Das Antimension [griechisch für „Antimensium“] war ursprünglich ein vom Bischof geweihtes Tuch, das die Kraft besaß, einen einfachen Tisch in einen Altar zu verwandeln. Es wurde auf Reisen benutzt „anstelle“ (griechisch „anti“) des steinernen, mit eingemauerten Reliquien ausgestatteten Altarttisches (lateinisch: „ mensa“) der Kirchen, wobei das Wort offensichtlich aus einer Zeit stammt, als östliches und westliches Christentum noch ungetrennt waren. Später wurde aus dem ursprünglichen „Reisealtartuch“ das oberste Altartuch schlechthin, auf dem schon seit Jahrhunderten in den Ostkirchen regelmäßig das Messopfer gefeiert wird.
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Das „Antimensium“, das Anette Haas hier in dem kapellenartigen Raum des Südquerhauses von St. Blasius ausgebreitet hat, diese große farbige Skulptur, begegnet uns als schlichte und doch zugleich überaus festliche Geste. Auf dem niedrigen quadratischen Podest aus einfachen Holzfaserplatten liegen in prächtigem Blau- und Rottönen an den Ecken umgeschlagene Tücher, die geometrische Figur eines gleicharmigen Kreuzes oder einer stilisierten „Kreuzblüte“ bildend. Im Zentrum markieren sorgfältig parallel gelegte Streifen-„Bordüren“ ein präzises Kreuz, dessen blassroter Grund gegen die rahmenden Streifen und die blassblauen Dreiecke in den vier Ecken steht. An den Rändern bilden die umgeschlagenen „Blütenblätter“ gespannte, runde „Voluten“, an deren Stirnen sich schmale Spalten zwischen den Bahnen öffnen.
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Das scheinbar so einfache Umschlagen der Tücher bewirkt eine dynamische Bewegung ihres Saumes: klare und geometrische, rechtwinklig aufeinanderstoßende Lineaturen in der ebenen Fläche der Mitte; dann die weiche konkave Form beim Lösen der Bahnen vom Grund; die straffe, runde Volute, in der der farbige Randstreifen bereits unmerklich ins Innere der Bahnen verschoben ist, und schließlich die nüchterne Packlage der liegen gebliebenen Tuchabschnitte an den Kreuzarmenden, wo man den farbigen „Saum“ in Gedanken weiterführt. Mit den einfachsten Mitteln wird bewirkt, dass Ruhe und Bewegung, Fläche und Raum, Blau und Rot, in präzisem und doch geheimnisvollem Spiel ineinandergreifen.
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Tatsächlich ist jede einzelne dieser Stoffbahnen ein mit Farbe und breitem Pinsel auf Nessel gemaltes, monochromes, leuchtend blaues oder rotes Bild, das beim Malen auf einen gewöhnlichen Keilrahmen gespannt war wie fast alle Tafelbilder seit der Renaissance. Die Spuren der regelmäßigen waagerechten und senkrechten Pinselstriche sind auf den Rückseiten des Baumwollstoffes noch zu erkennen, besonders in den Mittelachsen der Tücher, wo die Lagen der Pinselstriche einander ein wenig überlappen. Nach dem Trocknen hat Anette Haas die Tücher mit Wachs getränkt. Dadurch sind die monochromen Farbflächen noch leuchtender und die Rückseiten so durchscheinend geworden, dass die Farbe der Vorderseite blass hindurchschimmert. Und erst das harte Wachs gibt den Tüchern jene Festigkeit, die die plastischen Voluten an den Umschlagstellen hervorbringt.
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Wie das wirkliche Antimensium, das ja immer im Kontext eines Altares und einer Kirche genutzt wird, ist auch Anette Haas´ Skulptur präzise bezogen auf den Raum ringsum. Sie wiederholt die quadratische Form des Querhausarmes, in dem sie liegt, wobei die Diagonalstellung der Lage der Kreuzgrate im Gewölbe darüber entspricht. In der achsialen Lage vor der Apsisnische und ihren schlichten, klaren Formen antwortet sie auf die strenge Geometrie der romanischen Architektur über ihr. Dem einfachen Umschlagen der Tuchbahnen entspricht das „Umschlagen“ der Gewände der Fenster und Bogenöffnungen und der Wände selbst im darüber liegenden Kreuzgratgewölbe. Das dem Quadrat übereck einbeschriebene Diagonalquadrat ist übrigens eine der Grundfiguren mittelalterlichen Bauens, die immer wieder zugrunde gelegt wurde, um Proportionsbeziehungen zwischen Bauteilen wie Breite zu Höhe, Höhe zu Höhe etc. abzuleiten.

Anette Haas greift in ihrer Arbeit auch die Farbtradition dieses Raumes auf. Die Farben der aus dem mittleren 13. Jahrhundert stammenden Wandmalerei sind verblasst. Trotzdem ist noch deutlich zu erkennen, dass Blau und Rot absolut vorgeherrscht haben, jene vor allem Christus, Maria und Johannes vorbehaltenen Farben, die in der Spätantike an die Stelle der kaiserlichen Farbe Purpur – Mischfarbe von Blau und Rot – getreten waren und aufgrund dieser Nachfolge die Vorstellung von „herrscherlich“ bewahrt hatten. ...
Die reinen und starken Farben der Tücher verweisen darauf, dass früher einmal auch die Wandmalerei darüber leuchtend farbig war, wie wir aus dem Vergleich mit besser erhaltenen Malereien wissen. Und umgekehrt erinnert die Blässe der Rückseiten an die Vergänglichkeit der ungeschützt dem Licht ausgesetzten Farben.
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Anette Haas´ Arbeit ... bringt sich [im Dom St. Blasius] sehr genau ein in einen kultischen Raum, der wie diese Skulptur zugleich geometrisch präzise und lebendig ist, erfüllt von einer Malerei, die in fast ekstatischer Bewegung die Wunder und Legenden des Heils erzählt. In diesem Kontext erscheint diese Kunstwerk wie ein menschliches Präludium für das Göttliche, das sich über ihm vollzieht. Und genau das ist die Funktion des Antimensium.

© Horant Fassbinder

aus:
Anette Haas, Antimensium
Kunst im Dom IX. Herausgeber: Domkirchenvorstand, Braunschweig, 1997
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