Michael Stoeber
STIMME HINTER DEM VORHANG. Zu den Arbeiten von Anette Haas.
Auszüge aus dem Text
in
Anette Haas. Inlays.
Herausgegeben von der Barkenhoff-Stiftung, Worpswede. 1996


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„Happiness“ aus dem Jahre 1993 ist ein großformatiges Bild, das ironisch mit dem Motiv des Fensters spielt. Es ist ein Bild im Bild, aber die Bilder verschließen sich der Repräsentation. Die Vorstellung, das Bild könne wie vormals Fenster zur Welt sein, trägt nicht mehr. Die abgerundeten Kanten des inneren „Bildfensters“ suggerieren die Form eines Fernsehers, der modernen Variante der Weltvermittlung, aber auch dessen Mattscheibe bleibt blind. Nur wie hinter einem Filter wird durch die ultramarinblaue Grundierung im unteren Teil des Bildes die Ahnung einer unregelmäßigen Horizontlinie sichtbar.

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Die Serie der Arbeiten, die auf diese Ouvertüre folgt, sind Bildobjekte, die den Raum ganz konkret für sich reklamieren. Haben ihn die vorangehenden Tafelbilder noch durch Extension und Respiration von Farbe negiert oder evoziert, wird er nun durch Faltung, Bündelung und Schichtung des farbtragenden Materials ganz konkret Element der Arbeiten. Auch wenn diese Prozeduren die formbuchstabierenden Verfahren der Minimal Art in Anschlag bringen, bleibt Anette Haas keineswegs dabei stehen. Ihre Arbeiten beherrscht ein wunderbares Paradox. Sie sind objektiv und subjektiv zugleich. Sie sind Mathematik und Erzählung. Wenn man sie ent-faltet – ganz buchstäblich zurückverfolgt bis zu dem Punkt ihrer Entstehung – stellt man fest, dass sie formal sehr streng gearbeitet sind, und doch ist das Ergebnis von ornamentaler Leichtigkeit. Überall begegnet uns in den Bildobjekten eine Art schwebender Ambivalenz. So entpuppt sich die vermeintlich industrielle Textur als das Ergebnis einer ganz persönlichen Produktionsalchemie. Anette Haas spannt Nessel über einen Rahmen, trägt wiederholt lasierend Acrylfarbe auf und versiegelt das Ganze anschließend mit flüssigem Wachs. So erreicht sie den starren und zugleich flexiblen Materialstatus ihrer Arbeiten.

„Fries“ (er so, sie so) und „Sandwich“ (sie so, er so) haben spiegelnde, narrative Untertitel. Sie verweisen auf die formale Machart und die thematische Zusammengehörigkeit der Arbeiten. „Fries“ ist einem Diptychon gleich ein Bildobjekt aus zwei Teilen. Zwei farbige Nesselbahnen, die eine rot, die andere grün, von identischer Größe sind ökonomisch und unauffällig mit jeweils zwei Schrauben dicht nebeneinander an die Wand geheftet. Nur eine schmale Linie trennt sie, die wie ein scharfer Schnitt ist. Die Nesselstreifen sind so eingeschlagen, dass sie eine schlichte Volute bilden oder eine Art gewelltes Ornament. Dem Betrachter zeigen sie nicht ihre farblich strahlende Schauseite, sondern die farbschwache, duffe Rückseite. Die Farbe ist sie selbst und doch eine andere. Beim Durchgang durch die Nesselfaser und in der Interaktion mit dem siegelnden Wachs ändert sich ihr ontologischer Status. Ein Spiel, leicht und doch ernst genug, mit Identität und Differenz. „Ich ist ein anderer.“ Den Satz kennen wir von dem französischen Dichter Arthur Rimbaud. Wir begegnen dieser Verkehrung von außen und Innen auch bei der Bodenarbeit „Inlay“, deren Rot sich im Inneren ihrer Faltungen verbirgt, oder bei der Wandarbeit „Tuch“, die wie eine Ziehharmonika gefaltet an der Wand hängt und deren strahlendes Blau sich erst beim Blick auf ihre seitlichen Kanten enthüllt.

... Die Nesselbahn [bei „Fries“] mit der schwach grünlichen Außenseite zeigt im Inneren kein sattes Grün, sondern ein kräftiges Rot und umgekehrt zeigt die Bahn mit blassen Rot im Inneren ein strahlendes Grün. Dieses Prinzip der seitenverkehrten oder vertauschten Farbspiegelungen finden wir in der Bodenarbeit „Sandwich“ wieder, in der zwei Nesselbahnen von der Künstlerin so gestaltet, gefaltet und ineinandergelegt werden, dass sie farblich und formal eine ideale Paarbeziehung eingehen. Jedes Element bleibt bei sich und ist doch eins mit dem anderen. Damit wird das Spiel von Farbe und Faltung symbolisch und erzählerisch. Allerdings ist das ein sehr diskretes Erzählen. Es ist indirekt und implizit, so wie es die den Objekten eingeschriebenen Inlays sind. Als erzähle eine Stimmer hinter einem Vorhang.

Zieht man den Vorhang weg, führen die spiegelbildlichen Titelparenthesen zu einer Stelle aus dem Roman „Keiner weiß mehr“ von Rolf Dieter Brinkmann. Der früh verstorbene Autor schildert darin weitgehend biographisch seinen Ehealltag, seine Depressionen und Obsessionen. In ohnmächtigen Ausbrüchen und schmerzhaften Zustandsbeschreibungen werden gnadenlos die perspektivlose Tristesse von Ehe und Einzelexistenz vorgeführt. Die Stelle, aus der das Zitatfragment stammt, ist dagegen wie ein Atemholen und Ausruhen in diesem vergeblichen Kampf. Ist wie der kleine Traum einer großen Utopie, die der Alltag nicht herausgibt. Brinkmann schreibt: „Das Bild abgerundet ... ruhig, ohne Hast, einander zugewandt vorn in seinem Zimmer, sicher des anderen, dass der verstand, wie man eben war, sie so, er so, nicht anders, dabei keineswegs gleichgültig, das und das und das gemeinsam wieder untereinander aufgeteilt, nicht länger grundsätzlicher Erörterung wert.“

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In „Tableau“, dem vorläufig letzten Bild dieser Serie, geht die Künstlerin noch einen Schritt weiter. Die Leinwand besteht aus sieben übereinander geklebten Nesselschichten und sieht aus wie ein Diptychon, ist aber ein Bild. Ein intensives Lascauxbraun bedeckt zwei identische Rechtecke, die nebeneinander stehen, nur durch einen schmalen Streifen gebleichten Nessels voneinander getrennt. Schaut man genau hin, bemerkt man leichte Marmorierungen. Die Farbe scheint auf dem Weg, auch diese Grenze zu überwinden. Die alten Dualismen und Polaritäten, die Vertauschung von Innen und Außen, der Gegensatz von Fläche und Raum und die Gewichte der Farbe, all das scheint hier zu vorläufiger Ruhe und zum Ausgleich gekommen zu sein.

© Michael Stoeber

Aus:
STIMME HINTER DEM VORHANG. Zu den Arbeiten von Anette Haas.
in
Anette Haas. Inlays.
Herausgegeben von der Barkenhoff-Stiftung, Worpswede. 1996
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